Offenheit und Zugeständnisse sowie Entschlossenheit und Mut
Der erste eidgenössische Urnengang, zu dem auch Frauen zugelassen waren, fand an meinem 20. Geburtstag statt, einem regnerischen Sonntag. Wie stolz war ich, als ich das Couvert im Gemeindehaus in den Schlitz steckte.
Ob sich meine Mutter im Vorfeld pro Frauenstimmrecht verhielt? Ich weiss es nicht mehr. Ich bin auch nicht sicher, ob dies für sie so wichtig war. Als Bauersfrau war sie sich gewohnt, mitzureden und mitzuentscheiden. So wie das wohl bei vielen Selbständigerwerbenden der Fall war; oft machte die Ehefrau die Buchhaltung und kannte die Finanzen besser als «der Chef», ihr Ehemann. Ich wage darum die Behauptung, dass längst nicht alle Frauen «nichts zu sagen» hatten. Ich denke an den Film «Die Göttliche Ordnung»; erbitterter Widerstand manifestierte sich da ausgerechnet von der Unternehmerin.
Nach jahrzehntelangem Ringen und Argumentieren von mutigen Frauen kamen auch wir Schweizerinnen zum Wahl- und Stimmrecht. Ich habe grossen Respekt vor diesen unermüdlichen Kämpferinnen. Und ich freue mich sehr, dass der Bund das Gosteli-Archiv – Geschichte zur Frauenbewegung – vor kurzem zur Forschungseinrichtung mit nationaler Bedeutung ernannt hat und damit auch Gelder spricht.
Um die Zukunft zu gestalten, müssen wir die Vergangenheit kennen. Lange war es keine Selbstverständlichkeit, dass Mädchen Mittelschulen besuchten und dass sie Berufe lernten, die Männerdomänen waren. Als meine Jugendfreundin gegen Ende der 1960er-Jahre die Hochbauzeichnerlehre begann, war sie noch eine von wenigen Frauen in der Berufsschulklasse.
Mit dem Aufholen bei Ausbildungen veränderte sich die Arbeitswelt in der Schweiz. Noch gibt es aber in vielen Bereichen kein Männer/Frauen-Gleichgewicht, und zwar für beide Geschlechter: Pflegepersonal und Pädagogik sind «weiblich», Technik und Finanzbranche meist «männlich». Vor allem bei Kaderposten sollten Frauen aufholen. Dafür braucht es viel Offenheit und Zugeständnisse von Seiten der Männer, aber es braucht auch Entschlossenheit, Mut und Ehrgeiz von Frauen.
Liegt es nicht an uns älteren Frauen, unseren Töchtern, Schwiegertöchtern, Enkelinnen von der Vergangenheit zu erzählen? Aufzuzeigen, was erreicht wurde in den letzten 50 Jahren? Sie zu ermuntern, Ja zu einer Aufgabe zu sagen, die ihnen vielleicht zu gross scheint? Anders als wir, die manchmal Nein sagten, statt eine Lösung zu suchen für die Familienarbeit. Nicht immer verhinderten ja Männer mögliche Chancen für uns Frauen.
Besinnen wir uns also zurück, schauen wir aber vor allem nach vorne und ermutigen wir die kommenden Generationen, all die Rechte, die wir haben, zugunsten einer gleich berechtigten Gesellschaft zu nutzen.
Hanna Lienhard, Governor 2020/21, Inner Wheel Schweiz-Liechtenstein